Fristsetzung bei vom Europäischen Patentamt zu bestimmenden Fristen

L. Walder-Hartmann (DE)


Abstract

Rule 70(2) of the Implementing Regulations of the European Patent Convention and other rules of the Implementing Regulations provide for a period to be specified by the European Patent Office. The European Patent Office uses different relevant events triggering the running of the specified period. In the author’s view, the EPO cannot determine the relevant event. In all cases of a period to be specified, it follows from the European Patent Convention that the relevant event is notification. Heeding this, the manner of setting time limits becomes uniform, bringing about advantages for both the applicant and the European Patent Office. The practical relevance is high due to the multitude of cases affected.

Zusammenfassung

Regel 70(2) der Ausführungsordnung des Europäischen Patentübereinkommens sowie weitere Regeln der Ausführungsordnung sehen eine vom Europäischen Patentamt zu bestimmende Frist vor. Vom Europäischen Patentamt werden hierbei verschiedene fristauslösende Ereignisse herangezogen. Nach hier vertretener Auffassung kann das Europäische Patentamt das fristauslösende Ereignis nicht selbst bestimmen. Vielmehr ergibt sich aus dem Europäischen Patentübereinkommen, dass bei allen zu bestimmenden Fristen die Zustellung das fristauslösende Ereignis ist. Hierdurch wird die Fristsetzung einheitlich, was sowohl Vorteile für die Anmelder als auch für das Europäische Patentamt hat. Bei der großen Vielzahl betroffener Fälle ist die praktische Relevanz hoch.

I. Einleitung

Regel 70(2) des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) bestimmt für den Fall, dass Prüfungsantrag vor der Übermittlung des europäischen Recherchenberichts (ESR) gestellt wurde, dass das Europäische Patentamt (EPA) den Anmelder auffordert, innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob er die Anmeldung aufrechterhält.

Für europäische Patentanmeldungen, die direkt beim EPA eingereicht wurden (EPDirektanmeldungen), schickt das EPA eine Mitteilung nach Regel 70(2) EPÜ auf dem Formular 1082. Auf diesem Formular ist das Datum angegeben, an dem im europäischen Patentblatt auf die Veröffentlichung des Recherchenberichts hingewiesen wird, und der Anmelder wird aufgefordert, innerhalb von sechs Monaten nach diesem Veröffentlichungsdatum zu erklären, ob er die Anmeldung aufrechterhält.

Diese Verwaltungspraxis des EPA wird seit langer Zeit angewandt, ist jedoch nach Auffassung des Autors nicht EPÜ-konform. Stattdessen müsste, wie auch in allen anderen Fällen, in denen das EPÜ eine vom EPA zu bestimmende Frist vorsieht,[1] eine Fristdauer in Monaten[2] ab der Zustellung der betreffenden Mitteilung gesetzt werden.

Die nachfolgende Erörterung wird am Beispiel der Regel 70(2) EPÜ ausgeführt, gilt jedoch gleichermaßen für alle Vorschriften des EPÜ, die auf eine vom EPA zu bestimmende Frist abstellen.

II. Auslegung der Regel 70(2) EPÜ

Für die Methodik der Auslegung des EPÜ sind die Artikel 31 bis 33 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV) einschlägig.[3] Artikel 31(1) WÜRV hebt die grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung hervor. Nach Artikel 32 WÜRV kommt die historische Auslegung nachrangig zur Anwendung.
Die grammatikalische Auslegung von Regel 70(2) EPÜ allein ist unergiebig, da der Begriff der zu bestimmenden Frist nur im Kontext, d.h. der Systematik des Fristenregimes des EPÜ zu verstehen ist.

1. Systematische Auslegung
a. Vorbemerkung zum Begriff der Frist nach dem EPÜ

Artikel 120 EPÜ bildet den Ausgangspunkt für die Fristenregelungen des EPÜ (vgl. Art. 164(2) EPÜ). Aus Artikel 120 EPÜ geht hervor, dass eine Frist eine Dauer hat (Art. 120 c) EPÜ) und auf bestimmte Art zu berechnen ist (Art. 120 b) EPÜ). Der Ausführungsordnung ist hierzu zu entnehmen, dass eine Frist einen Fristbeginn hat. Der Fristbeginn ist ein Tag, der durch den Eintritt eines Ereignisses (fristauslösendes Ereignis) festgelegt ist. Ein solches Ereignis kann eine Handlung sein, z.B. die Zustellung eines Schriftstücks, d.h. der Zugang des Schriftstücks beim Empfänger (Regel 131 (2) EPÜ).

Die Bestimmung des Fristendes aus dem Fristbeginn und der Fristdauer wird als Fristberechnung bezeichnet. Bei der Fristberechnung ist mit dem Tag nach dem Fristbeginn zu beginnen, d.h. mit dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem das Ereignis eingetreten ist, aufgrund dessen der Fristbeginn festgelegt wurde (Regel 131(2) EPÜ). Die Fristdauer ist kalendarisch hinzuzuzählen und ggf. automatisch zu verlängern (Regel 134 EPÜ). Weitere Einzelheiten zum Fristende enthält Regel 131 (3)-(5) EPÜ.[4]

Zu bemerken ist, dass eine Frist zwar im Voraus festgelegt wird, d.h. zumindest bestimmbar ist, aber erst durch tatsächliche Umstände ausgelöst wird, nämlich den Eintritt des fristauslösenden Ereignisses. Während das EPÜ das fristauslösende Ereignis festlegen kann, d.h. die Bedingung für einen Fristbeginn, ist der Fristbeginn selbst ein konkretes Datum, das sich für den Einzelfall aus der tatsächlichen Lage der Dinge ergibt.

Nach dem EPÜ gibt es ein und nur ein fristauslösendes Ereignis für jede Frist (Regel 131(2) EPÜ: „Tag…, an dem das Ereignis eingetreten ist, aufgrund dessen der Fristbeginn festgelegt wird“). Liegen die entsprechenden Umstände im konkreten Fall tatsächlich vor, d.h. ist das eine, fristauslösende Ereignis eingetreten, dann beginnt die Frist unbedingt und unausweichlich zu laufen.

Das EPÜ unterscheidet zwei Kategorien von Fristen, bzw. von Fristsetzungen. Zum einen gibt es Fristen, die durch das EPÜ festgelegt sind (Art. 120 a) EPÜ), und zum anderen ‘vom Europäischen Patentamt zu bestimmende Fristen’ (Artikel 120 c) EPÜ). Ein Beispiel für die erste Kategorie ist die Fristenregelung nach Regel 70(1) EPÜ, während Regel 70(2) EPÜ in die zweite Kategorie fällt.

b. Der Begriff der ‘zu bestimmenden Frist’

Der Begriff der vom EPA ‘zu bestimmenden Frist’ kommt nicht nur in Regel 70(2) EPÜ, sondern in vielen weiteren Regeln der Ausführungsordnung des EPÜ vor.[5] Er ist durch das ganze EPÜ hindurch einheitlich zu verstehen, denn es ist mangels gegenteiligen Anzeichens anzunehmen, dass der Gesetzgeber bei der Verwendung desselben Begriffs in verschiedenen Normen stets dasselbe meint. Es stellt sich die Frage, was das EPA konkret bestimmen darf und zu bestimmen hat, nämlich die Fristdauer, das fristauslösende Ereignis oder beides.

Artikel 120 c) EPÜ besagt, dass in der Ausführungsordnung die Mindest- und die Höchstdauer der vom EPA zu bestimmenden Fristen bestimmt werden. Regel 132(1) EPÜ stellt klar, dass der Bezug auf eine ‘zu bestimmende Frist’ im EPÜ stets meint, dass das EPA diese Frist bestimmt. Regel 132(2) EPÜ füllt dann die Ermächtigung des Artikel 120 c) EPÜ zur Regelung der Mindest- und Höchstdauer aus, indem die Mindestdauer mit zwei Monaten und die Höchstdauer mit vier, bzw. bei besonderen Umständen sechs Monaten festgelegt ist. Aus diesem Zusammenhang mit der Mindest- und Höchstdauer ergibt sich bereits, dass Regel 132(2) EPÜ dem EPA lediglich ermöglicht, die Fristdauer innerhalb des gesteckten Rahmens zwischen der Mindest- und der Höchstdauer festzulegen.[6] Die englische Sprachfassung besagt an der entsprechenden Stelle auch klar, dass das EPA eine ‘period’ (Zeitspanne) festlegen soll (Art. 177(1) EPÜ). Es wird also auf den Aspekt der Fristdauer abgestellt, ähnlich wie z.B. in Regel 131(3)-(5) EPÜ, auch wenn die deutsche und französische Fassung hier undifferenziert von ‘Frist’ (‘délai’) spricht.

Regel 132(2) EPÜ besagt also nichts anderes, als dass das EPA eine Fristdauer zwischen zwei und sechs Monaten festlegen darf und dies nach Regel 132(1) EPÜ auch zu tun hat, wenn im EPÜ von ‘einer zu bestimmenden Frist’ die Rede ist. Weder die Artikel noch die Regeln des EPÜ enthalten die Einräumung irgendwelcher weitergehender Befugnisse für das EPA und insbesondere nicht die Befugnis, das fristauslösende Ereignis festzulegen. Daraus, dass Regel 132(2) EPÜ nicht explizit die Festlegung des fristauslösenden Ereignisses durch das EPA ausschließt, darf nicht geschlossen werden, dass das EPA hierzu die Kompetenz besäße oder sich verschaffen könnte. Ohne Ermächtigung durch das Gesetz kann das EPA keine Bestimmungen erlassen, insbesondere keine Bestimmungen zu Fristen, die für Anmelder negative Rechtsfolgen haben können.

Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben, weil sich das fristauslösende Ereignis immer, wenn von einer ‘zu bestimmenden Frist’ die Rede ist, aus dem EPÜ ergibt. Da es ein und nur ein fristauslösendes Ereignis geben kann, ist dadurch kein Raum für das EPA, ein abweichendes fristauslösendes Ereignis festzulegen.

c. Der Begriff der ‘Aufforderung’ und das fristauslösende Ereignis

Wurde Prüfungsantrag gestellt, bevor dem Anmelder der ESR übermittelt wurde, so hat das EPA nach Regel 70(2) EPÜ den Anmelder aufzufordern, innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob er die Anmeldung aufrechterhält. Ähnliche Formulierungen, die in der deutschen Sprachfassung des EPÜ teils ‘Aufforderung’/ ‘auffordern’ teils ‘verlangen’/‘Gelegenheit geben’ beinhalten, finden sich auch in anderen Regeln des EPÜ, die sich auf eine zu bestimmende Frist beziehen.[7]

Eine Aufforderung ist empfangsbedürftig. Ohne den (formgerechten) Zugang der Mitteilung, die die Aufforderung enthält, ist eine Aufforderung schlicht nicht erfolgt. Der Anmelder muss auf dem gesetzlich bestimmten Wege der Zustellung Kenntnis erlangen, dass überhaupt eine Frist gesetzt ist und welche Dauer sie hat. Die reine Möglichkeit der Kenntnisnahme auf anderem Weg, z.B. durch Einsicht in das europäische Patentregister, reicht nicht aus. Es kommt also auf die formgerechte Zustellung durch eingeschriebenen Brief an (Artikel 119, Regeln 125(1) und 126(1) EPÜ).

In dem Bezug auf die Aufforderung[8] liegt auch der Schlüssel dafür, warum das fristauslösende Ereignis in all den Fällen durch das EPÜ bestimmt ist, in denen das EPÜ von einer vom EPA ‘zu bestimmenden Frist’ spricht. Denn wenn es auf die Zustellung ankommt, dann kann nur der Zugang des zugestellten Schriftstücks das fristauslösende Ereignis sein, weil es ein und nur ein fristauslösendes Ereignis gibt (vgl. Regel 131(2) EPÜ). Da es auf den Eintritt des Ereignisses ‘Zustellung’ ankommt, ist hierdurch auch der Fristbeginn gegeben und es ist ausgeschlossen, dass der Eintritt eines anderen Ereignisses den Fristbeginn markieren kann.

Daraus folgt, dass eine ‘zu bestimmende Frist’ nach systematischer Auslegung stets nur eine vom EPA zu bestimmende Fristdauer meint, welche zwischen zwei und sechs Monaten, also zwischen der Mindest- und der Höchstdauer festgesetzt werden kann (Artikel 120, Regel 132(2) EPÜ), während das fristauslösende Ereignis in diesen Fällen immer der Zugang der zuzustellenden Mitteilung ist (Regel 131(2) EPÜ).

2. Teleologische Auslegung

Aus dem ersten Halbsatz von Regel 70(2) EPÜ geht zunächst hervor, dass es möglich ist, den Prüfungsantrag vor Übermittlung des ESR zu stellen. Wird der Prüfungsantrag entsprechend früh gestellt, so kann der Anmelder unter Umständen die Erfolgsaussichten für eine Patenterteilung nicht gut einschätzen, weil ihm der relevante Stand der Technik verborgen sein mag, oder er kann zu diesem Zeitpunkt den kommerziellen Erfolg der Erfindung noch nicht gut abschätzen. Ist später aus dem ESR ersichtlich, dass die Anmeldung wegen eines starken Standes der Technik allenfalls geringe Aussichten auf Erteilung hat, oder stellt der Anmelder fest, dass er z.B. aus wirtschaftlichen Gründen das Interesse an der Anmeldung verloren hat, so ermöglicht Regel 70(2) EPÜ einen Untergang der Anmeldung, ohne dass die Prüfungsabteilung zuständig geworden wäre (Regel 10 EPÜ) und die Prüfung begonnen hätte. Dadurch werden dem EPA Arbeitskraft und dem Anmelder weitere Kosten gespart, auch weil in diesem Fall die Prüfungsgebühr zurückerstattet wird (Artikel 11 Gebührenordnung). Sinn und Zweck der Regel 70(2) EPÜ ist es also, Ressourcen des EPA und des Anmelders zu schonen.

Umgekehrt droht durch Fristsetzung nach Regel 70(2) EPÜ auch ein ungewollter Untergang einer Anmeldung, da Regel 70(3) EPÜ bei Fristversäumnis die Zurücknahme der Anmeldung fingiert. Die Mitteilung nach Regel 70(2) EPÜ hat also auch eine Warnfunktion.

Während der erste Aspekt im Hinblick auf die Frage der Auslegung der Fristsetzung in Regel 70(2) EPÜ unergiebig ist, weist der zweite Aspekt wiederum darauf hin, dass es auf den Zugang der formgerecht zuzustellenden Mitteilung ankommt.

3. Historische Auslegung

In den Vorbereitungsarbeiten zum EPÜ’73, konkret im ersten Arbeitsentwurf von 1961[9], war ein Artikel 156 vorgesehen, der im zweiten Absatz Folgendes besagte: „Ist in diesem Abkommen oder in der Ausführungsordnung zu diesem Abkommen eine Frist für die Vornahme einer Handlung vorgesehen, deren Dauer vom Europäischen Patentamt zu bestimmen sind, so darf diese Frist nicht auf weniger als zwei Monate und nicht auf mehr als vier Monate festgesetzt werden. Die Frist kann auf Antrag in besonders gelagerten Fällen auf insgesamt sechs Monate verlängert werden.“

Dieser Artikel ist offensichtlich ein Vorläufer der Regel 132(2) EPÜ, der genau wie besagte Regel von der Festlegung einer Frist durch das EPA auf nicht weniger als zwei und bis zu maximal sechs Monaten spricht, dabei allerdings explizit deutlich macht, dass es die Dauer der Frist ist, die hier vom EPA zu bestimmen ist. Entsprechend wurde hierzu bemerkt[10] , dass es verschiedene Gruppen von Fristen gebe, darunter „Fristen, deren Länge vom Europäischen Patentamt ‘zu bestimmen’ ist, wobei das Europäische Patentamt sein Ermessen nur innerhalb des Rahmens ausüben darf, der im Abkommen selbst genau festgelegt ist“. Dem EPA soll somit ein Ermessen hinsichtlich der Fristdauer eingeräumt werden und sonst nichts.

Die aktuelle Regel 132(2) EPÜ ist demgegenüber sprachlich verkürzt, ohne dass jedoch eine Änderung des Inhalts damit einhergehen sollte. Die historische Auslegung bestätigt damit ebenfalls das Verständnis, wonach ‘eine zu bestimmende Frist’ als ‘eine zu bestimmende Fristdauer’ zu verstehen ist, während das fristauslösende Ereignis nicht vom EPA bestimmt werden kann.

4. Schlussfolgerung

Alle Auslegungsmethoden ergeben, dass Regel 70(2) EPÜ ebenso wie alle anderen Regeln des EPÜ, die auf ‘eine zu bestimmende Frist’ Bezug nehmen, so zu verstehen sind, dass der Anmelder aufgefordert wird, bzw. ihm Gelegenheit gegeben oder von ihm verlangt wird, eine Handlung innerhalb einer Frist vorzunehmen, die mit dem Zugang der entsprechenden, zuzustellenden Mitteilung beginnt und deren Fristdauer (zwischen zwei und sechs Monaten) das EPA zu bestimmen hat. Dabei greift die Zustellungsfiktion nach Regel 126(2) EPÜ meistens ein, so dass es selten auf den tatsächlichen Tag des Zugangs ankommt.

III. Die Position des EPA

Auf Rechtsanfrage[11] mit der Anregung, die Verwaltungspraxis bezüglich EPDirektanmeldungen zu ändern, oder eine aus dem EPÜ begründete Gegenposition zu entwerfen, wurde von der Rechtsabteilung des EPA die Position vertreten, das EPA könne das fristauslösende Ereignis bestimmen. Dieses sei in Form der Veröffentlichung des Recherchenberichts festgelegt und über diese Veröffentlichung werde der Anmelder mittels Form 1082 informiert. Zur Begründung wurde zum einen auf die Richtlinien für die Prüfung am Europäischen Patentamt (Richtlinien) verwiesen, was unbeachtlich ist, da die Richtlinien nicht zur Auslegung des EPÜ heranzuziehen sind, und zum anderen geltend gemacht, es solle ein Gleichlauf mit Regel 70(1) EPÜ herbeigeführt werden, um eine Ungleichbehandlung von Anmeldern zu verhindern. Auf weitere Anfrage[12], was das EPA mache, wenn die Frist gemäß Form 1082 abgelaufen sei und der Anmelder die Mitteilung nachweislich nie erhalten habe, wurde erklärt, das EPA schicke ein formloses Schreiben, in dem eine weitere, außerordentliche Frist zur Erklärung über die Aufrechterhaltung nach Regel 70(2) EPÜ gesetzt werde.

Diese Gegenposition beinhaltet keine Auslegung des EPÜ und ermangelt somit einer stichhaltigen Begründung. Die Praxis des EPA ist zudem in sich widersprüchlich.

1. Mitteilung nach Regel 70(2) EPÜ hat nicht nur Informationscharakter

Wie oben dargelegt, ist die Fristsetzung nach Regel 70(2) EPÜ von der Kategorie der vom EPA zu bestimmenden Fristen, im Gegensatz zu den im EPÜ festgelegten Fristen (Artikel 120 a) und c) EPÜ). Das fristauslösende Ereignis von im EPÜ festgelegten Fristen muss nicht die Zustellung sein, sondern kann z.B. die Veröffentlichung des Recherchenberichts sein (wie z.B. in Regel 70(1) EPÜ). Eine solche Frist, dessen fristauslösendes Ereignis nicht die Zustellung ist, beginnt bei Eintritt des fristauslösenden Ereignisses unabhängig davon zu laufen, ob der Anmelder darüber informiert wird oder davon weiß. Eine Mitteilung des EPA zu solch einer Frist (wie z.B. eine Mitteilung nach Regel 69 EPÜ) weist den Anmelder nur auf die bereits laufende Frist hin. Ein Unterbleiben einer solchen Mitteilung hat aber auf den Fristlauf und insbesondere den Fristablauf keinen Einfluss.

Hingegen ist bei der Kategorie der vom EPA zu bestimmenden Fristen die Mitteilung selbst konstitutiv für die Frist, die ohne die Mitteilung nicht gesetzt und ohne den Zugang beim Empfänger niemals ausgelöst würde. Es ist also nicht möglich, dass Form 1082 den Anmelder lediglich – wie bei gesetzlich festgelegten Fristen – über eine bereits seit der Veröffentlichung des Recherchenberichts laufende Frist informiert.

Nähme man aber an, das EPA könnte das fristauslösende Ereignis bestimmen und wie nach gegenwärtiger Praxis auf die Veröffentlichung des Recherchenberichts legen, dann würde genau das geschehen. Dann aber müsste man konsequenterweise annehmen, dass es auf die Zustellung für den Fristlauf nicht ankommen kann, denn eine bedingte Frist der Art ‘Fristbeginn ist die Veröffentlichung des Recherchenberichts, aber nur, wenn die Zustellung erfolgt ist’ kennt das EPÜ nicht. Das würde bedeuten, dass die Frist nach Regel 70(2) EPÜ, die für EP-Direktanmeldungen mit sechs Monaten ab Veröffentlichung des Recherchenberichts gesetzt ist, auch dann abliefe, wenn der Anmelder die Mitteilung nach Regel 70(2) EPÜ niemals erhielte.

Hier widerspricht das EPA sich selbst. Indem das EPA eine weitere Frist zur Antwort auf die Aufforderung nach Regel 70(2) EPÜ setzt, wenn sich nachträglich ergibt, dass die Mitteilung nach Regel 70(2) EPÜ nicht zugegangen ist, gibt das EPA zu, dass es eben doch auf die Zustellung angekommen wäre. Denn wenn die Fristsetzung korrekt gewesen wäre, wäre die Frist unabhängig von der Zustellung der entsprechenden Mitteilung abgelaufen, eine Fristversäumnis eingetreten und die Frist könnte nicht einfach erneut gesetzt werden. Da aber die Zustellung nach der Position des EPA nicht das fristauslösende Ereignis war, könnte die Zustellung nur als weitere Bedingung für den Fristlauf verstanden sein, was aber im EPÜ nicht vorgesehen ist. Weitere Widersprüchlichkeiten ergeben sich dann dadurch, dass das angebliche fristauslösende Ereignis (‘Veröffentlichung des Recherchenberichts’) einfach durch ein anderes ersetzt wird (‘Zustellung’), wenn die Zustellung bis zum Ablauf der gesetzten Frist nicht eingetreten ist.[13] Auch solch einen Vorgang kennt das EPÜ nicht.

Wäre die Frist hingegen nach der oben beschriebenen Auslegung von Regel 70(2) EPÜ gesetzt worden, d.h. mit der Zustellung als fristauslösendem Ereignis, lösten sich die Widersprüche auf, denn bei nicht erfolgter Zustellung hätte die Frist niemals zu laufen begonnen und könnte neu gesetzt werden.

2. Regel 70(1) EPÜ ist für die Auslegung von Regel 70(2) EPÜ irrelevant

Regel 70(1) EPÜ enthält eine im EPÜ festgelegte Frist, nämlich die Frist zur Stellung des Prüfungsantrags. Regel 70(1) EPÜ gestaltet dabei Artikel 94(1) EPÜ aus. Der primäre Regelungsgehalt ist die Entscheidung des Gesetzgebers, wer Prüfungsantrag stellen kann und bis wann.

Hingegen geht Regel 70(2) EPÜ von ganz anderen Voraussetzungen aus, nämlich davon, dass Prüfungsantrag bereits gestellt ist (und zwar frühzeitig vor Übermittlung des Recherchenberichts). Regel 70(1) EPÜ und die darin enthaltene Frist spielen in dieser Konstellation bereits keine Rolle mehr. Regel 70(2) EPÜ dient der Schonung von Ressourcen des EPA und des Anmelders (siehe oben II.2). Auch wenn ein Anmelder, der Prüfungsantrag bei Übermittelung des Recherchenberichts noch nicht gestellt hat, ähnliche Überlegungen anstellen kann wie nach Erhalt der Mitteilung nach Regel 70(2) EPÜ, nämlich ob sich die Fortführung der Anmeldung überhaupt lohnt und ob dementsprechend Prüfungsantrag gestellt werden soll oder nicht, bleibt doch der primäre Regelungszweck von Regel 70(1) EPÜ ein anderer. Regel 70(1) EPÜ und Regel 70(2) EPÜ, die historisch aus unterschiedlichen Artikeln entstammen[14], haben systematisch und von der primären Zielsetzung nichts miteinander zu tun. Regel 70(1) EPÜ ist für die Auslegung von Regel 70(2) EPÜ daher nicht heranziehbar und kann keinen Einfluss darauf haben, wie die Frist nach Regel 70(2) EPÜ zu setzen ist.

Eine „Ungleichbehandlung“ von Anmeldern, die den Prüfungsantrag früh stellen und solchen, die es erst nach Übermittlung des Recherchenberichts tun, ist durch die unterschiedlichen Normen bereits angelegt und somit rechtlich nicht zu beanstanden.[15] Dass das EPA in der Praxis den Anmeldern einen möglichst ähnlichen Zeitraum geben möchte, ist zu begrüßen. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass das EPA versucht, die – bereits von der Kategorie her – unterschiedlichen Fristen nach Regel 70(1) EPÜ und Regel 70(2) EPÜ rechtlich gleich zu machen, sondern kann nur dazu führen, sie durch entsprechende Fristsetzung praktisch ähnlich zu machen.

IV. Konsequenzen für die Praxis

Nach der hier vertretenen Auffassung müsste das EPA seine Verwaltungspraxis ändern und alle vom EPA zu bestimmenden Fristen einheitlich auf die Zustellung der entsprechenden Mitteilung beziehen. Die zugehörigen Formblätter wären ebenso anzupassen wie die Richtlinien. Insbesondere gilt dies für das Formblatt 1082, welches für EP-Direktanmeldungen die Mitteilung gemäß Regel 70(2) EPÜ beinhaltet.

Derzeit ist eine Einheitlichkeit der Fristsetzung nicht einmal innerhalb einzelner Normen gegeben, weil unterschiedliche fristauslösende Ereignisse herangezogen werden. Beispielsweise wird für Euro-PCT-Anmeldungen auf Form 1224 die Frist nach Regel 70(2) EPÜ richtigerweise auf die Zustellung bezogen, während für EPDirektanmeldungen auf Form 1082 die Frist nach Regel 70(2) EPÜ auf die Veröffentlichung des ESR bezogen wird.

Durch die Änderungen würde die Fristsetzung einheitlich und die Rechtssicherheit erhöht. Der Aufwand für die Ausbildung von Formalprüfern und Patentanwaltsfachangestellten würde verringert, weil nicht länger unterschiedliche Fristsetzungen zu berücksichtigen wären (und zwar nach Situationen, die im Gesetz gar keinen Ausdruck finden). Damit würden auch Fehlerquellen für die Fristennotierung eliminiert, Fristversäumnisse vermieden und mit Gebühren verbundene Rechtsbehelfe seltener. Es ergäben sich also auch in der Praxis Vorteile sowohl für das EPA als auch für die Anmelder.

Unbequemer mag es zwar erscheinen, dass z.B. der Hinweis auf die Frist zur Zahlung der Benennungsgebühren (Regel 39(1) EPÜ), der derzeit auf demselben Formblatt 1082 zusammen mit der Mitteilung nach Regel 70(2) EPÜ geschickt wird, nicht länger dieselbe Fristsetzung hätte. Letztlich ist dies aber nur Ausdruck der unterschiedlichen Kategorien von Fristen, denn Regel 39(1) EPÜ beinhaltet eine vom EPÜ festgelegte Frist und Regel 70(2) EPÜ eben nicht. Unabhängig von Vor- und Nachteilen sind Fristen letztlich so zu setzen, wie es das Gesetz vorsieht, wovon nicht aus praktischen Gründen abgewichen werden kann.

Die hier aufgeworfene rechtliche Problematik könnte in einem Beschwerdeverfahren vor dem EPA geklärt werden.


  1. Regeln R. 3(3), R. 5, R. 50(3), R. 53(3), R. 59, R. 60(2), R. 70(2), R. 70a(2) (durch Verweis), R. 71(1), R. 77(2), R. 79(1), R. 79(3), R. 81(2), R. 94, R. 95(2), R. 100(2), R. 101(2), R. 108(2), R. 118(2), R. 151(2), R. 152(2) EPÜ.
  2. Zwischen zwei und sechs Monaten; vgl. Regel 132(2) EPÜ.
  3. Zwar unterliegt das EPÜ formal nicht dem WÜRV, da es früher geschlossen wurde, aber das WÜRV wird dennoch angewendet; siehe G 1/83, G 5/83, G 6/83, jeweils Nr. 3 und 4 der Entscheidungsgründe.
  4. Siehe zum Fristenregime des EPÜ im Allgemeinen z.B. Singer/Stauder/Kroher, Europäisches Patentübereinkommen EPÜ, 7. Auflage 2016, Artikel 120, Rn. 7-17.
  5. Siehe oben Fn. 1.
  6. Vgl. auch Singer/Stauder/Kroher, Europäisches Patentübereinkommen EPÜ, 7. Auflage 2016, Artikel 120, Rn. 5, 34-38.
  7. ‘verlangen’: R. 3(3), R. 5; ‘auffordern’: R. 50(3), R. 53(3), R. 59, R. 60(2), R. 70(2), R. 70a(2), R. 71(1), R. 77(2), R. 79(3), R. 94, R. 100(2), R. 101(2), R. 108(2), R. 118(2)c), R. 151(2), R. 152(2) EPÜ; ‘Gelegenheit geben’: R. 79(1), R. 81(2), R. 95(2).
  8. Für andere Formulierungen (‘verlangen’, ‘Gelegenheit geben’) gilt dasselbe.
  9. Siehe https://www.epo.org/law-practice/legal-texts/epc/archive/epc-1973/traveaux_de.html unter ‘Artikel 120’.
  10. Am angegebenen Ort.
  11. Rechtsanfrage des Autors vom 17.1.2017 und Antwort vom 1.6.2017.
  12. Rechtsanfrage des Autors vom 5.9.2017 und telefonische Auskunft vom 6.9.2017.
  13. Noch augenscheinlicher ist diese Merkwürdigkeit bei der ähnlichen Behandlung von R. 53(3) EPÜ nach der Amtspraxis des EPA. Dort kann allein das Zuwarten des EPA ohne Fristablauf dazu führen, dass ein anderes fristauslösendes Ereignis herangezogen wird als es zu einem früheren Zeitpunkt der Fall gewesen wäre; siehe Richtlinien A-III, 6.8.
  14. Art. 94(2) EPÜ’73, bzw. Art. 96(1) EPÜ’73.
  15. Beispielsweise wäre es vollkommen legitim, wenn das EPA die Fristdauer der Frist nach Regel 70(2) EPÜ auf vier Monate setzte.