Remote Participation as the New Normal?

K. Eschenbacher (DE), European Patent Attorney


ABSTRACT
In oral proceedings held by videoconference, the members of the respective department of the EPO may connect to the videoconference remotely from different locations (“Remote Participation”). However, remote participation by members of a department of the first instance or by the members of a Board of Appeal appears highly questionable since it may restrain communication and collaboration between the members, and thus affect the quality of decisions taken in oral proceedings. Even if oral proceedings by videoconference were established as the ”new normal“, the question regarding the justification and legitimacy of remote participation requires to be examined separately. Oral proceedings in which the members of the respective department participate only by remote participation should not be made the ”new normal“.

Fernteilnahme als „neue Normalität“?

Infolge der durch die COVID-19-Pandemie hervorgerufenen Notlage ist die ursprünglich als „Pilotprojekt“ eingeführte Durchführung von mündlichen Verhandlungen in Form von Videokonferenzen inzwischen zum Normalfall geworden, und zwar sowohl für sämtliche erstinstanzliche Verfahren als auch für Beschwerdeverfahren. Das Pilotprojekt zur Durchführung mündlicher Verhandlungen vor Einspruchsabteilungen als Videokonferenz ist per Beschluss des Präsidenten des EPA vom 14. Mai 2021 bis zum 31. Januar 2022 verlängert worden, wobei fraglich ist, ob diese Verlängerung derzeit noch mit einer „pandemischen Notlage“ begründet werden kann.

Die zahlreichen kritischen Stimmen (z. B. in den Amicus-curiae-Schreiben im Vorlageverfahren G 1/21) gegen die de-facto-Ersetzung der mündlichen Verhandlungen „in Präsenz“ durch Videokonferenzen konzentrieren sich im Wesentlichen auf die beiden Grundfragen, nämlich ob eine Videokonferenz unter dem Gesichtspunkt des „rechtlichen Gehörs“ gleichwertig ist mit einer Präsenz-Verhandlung und ob mündlichen Verhandlungen auch bei fehlender Zustimmung aller Beteiligen als Videokonferenzen abgehalten werden können.

Weniger Beachtung findet dagegen eine weitere Änderung, die im Zuge der Einführung der obligatorischen Videokonferenz sozusagen en passant miteingeführt wurde, nämlich die „Fernteilnahme“ von Mitgliedern der jeweiligen Abteilung.
Für die Prüfungsabteilung wird diese Fernteilnahme in den „Richtlinien für die Prüfung im EPA“ (E-III, 8.2.2.2; Ausgabe März 2021) so dargestellt:
"Die Mitglieder der Prüfungsabteilung können ebenfalls von unterschiedlichen Orten aus per Fernverbindung an der als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung teilnehmen. In diesen Fällen findet die Beratung und Abstimmung unter den Mitgliedern der Abteilung über einen separaten Kommunikationskanal statt. Als Ort der mündlichen Verhandlung gilt der Ort, an dem die Prüfungsabteilung konstituiert ist. Den Anmeldern oder Vertretern wird die Fernteilnahme von Mitgliedern der Prüfungsabteilung zu Beginn der mündlichen Verhandlung nach dem Verbindungsaufbau und vor der offiziellen Eröffnung der mündlichen Verhandlung mitgeteilt".

Eine ähnliche Regelung ist in Art. 15a (Absatz 3) der geänderten Verfahrensordnung der Beschwerdekammern enthalten:
"Der Vorsitzende im jeweiligen Beschwerdeverfahren und mit seinem Einverständnis jedes andere Mitglied der Kammer im jeweiligen Beschwerdeverfahren können an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz mitwirken" (s. Amtsblatt EPA, 3/2021, A19).

In der Praxis bedeutet dies wohl, dass die Mitglieder der Eingangsstelle, der Rechtsabteilung, einer Prüfungsabteilung, einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer während der mündlichen Verhandlung nicht – wie sonst üblich – in einem Raum gemeinsam anwesend sind, sondern einzeln aus unterschiedlichen Räumen desselben Gebäudes, aus unterschiedlichen Gebäuden innerhalb derselben Stadt, oder sogar von "unterschiedlichen Orten aus" an einer Verhandlung mitwirken können (d. h. vermutlich auch aus dem „Home Office“). Dass die „Fernteilnahme“ vor der offiziellen Eröffnung der mündlichen Verhandlung den Beteiligten mitgeteilt wird, ist wenig hilfreich, da ohnehin keine Anfechtungsmöglichkeit besteht.

Macht es wirklich keinen Unterschied, ob die Mitglieder des jeweiligen Organs in der mündlichen Verhandlung nebeneinander sitzen und bei Beratungen von Angesicht zu Angesicht kommunizieren, oder ob sie per Videokonferenz zusammengeschaltet sind und nur aus der Ferne miteinander kommunizieren? Hat diese "Fernteilnahme" wirklich keinen Einfluss auf den Ablauf einer mündlichen Verhandlung, die Erörterung der Sach- und Rechtslage, auf die Beratungen und Abstimmungen und letztendlich auf die Qualität der Entscheidungen? Zweifel erscheinen aus mehreren Gründen angebracht.

Mündliche Verhandlungen finden üblicherweise vor einem mindestens dreiköpfigen Kollegium statt, wobei ein Mitglied des jeweiligen Organs als Vorsitzende(r) die Leitung der Verhandlung übernimmt. Für die sachliche Prüfung im vorausgehenden schriftlichen Verfahren und die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung ist ein beauftragtes Mitglied oder – im Falle der Beschwerdekammern – der Berichterstatter zuständig. In der Regel ist der/die Vorsitzende nicht mit dem beauftragten Mitglied oder dem Berichterstatter identisch.

Bereits aufgrund dieser Rollenverteilung ist offensichtlich, dass die „Qualität“ einer mündlichen Verhandlung wesentlich von der Kommunikation zwischen den einzelnen Mitgliedern der jeweiligen Abteilung oder Kammer abhängt. Diese Kommunikationsmöglichkeiten müssen während der mündlichen Verhandlung gegeben sein, insbesondere bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage, und dürfen sich nicht auf die Beratungen und Abstimmungen beschränken.

In den Prüfungsrichtlinien (E-III 8.10) ist deshalb ausdrücklich vorgesehen, dass der Leiter der mündlichen Verhandlung den übrigen Mitgliedern der Abteilung auf Verlangen gestatten muss, Fragen zu stellen. Solche Fragen können in der mündlichen Verhandlung an die Beteiligten im Zusammenhang mit dem Vortrag der Beteiligten oder der Erörterung der Sach- und Rechtslage gestellt werden (E-III 8.10). Dabei kann es sich z. B. um Fragen handeln, die die Erläuterung bestimmter technischer Aspekte oder die Auslegung von Begriffen betreffen, oder die Zweifel an einem vorgetragenen Argument erwecken. In der Vergangenheit war es – nach den eigenen Erfahrungen des Autors – bei mündlichen Verhandlungen „in Präsenz“ durchaus üblich, dass die übrigen Mitglieder von diesem Fragerecht Gebrauch machten.

Bei einer Fernteilnahme "findet die Beratung und Abstimmung unter den Mitgliedern der Abteilung über einen separaten Kommunikationskanal statt" (Richtlinien, E-III, 8.2.2.2). Dieser separate Kommunikationskanal kann von den Mitgliedern der Abteilung vermutlich auch genutzt werden, um den Leiter der mündlichen Verhandlung zu bitten, eine Frage stellen zu dürfen. Allerdings erscheint diese Art der Inanspruchnahme des Fragerechts erheblich umständlicher als bei einer Präsenzverhandlung, bei welcher das jeweilige Mitglied sich direkt an den neben ihm sitzenden Leiter der mündlichen Verhandlung wenden kann.

Angesichts der technischen und eventuell auch psychologischen Hemmnisse bei der Verwendung eines „separaten Kommunikationskanals“ ist zu befürchten, dass bei einer Fernteilnahme von Mitgliedern einer Abteilung oder Beschwerdekammer das Fragerecht nicht in dem Umfang in Anspruch genommen wird, wie es im jeweiligen Fall nötig wäre. Eine direkte, spontane Kommunikation zwischen den Mitgliedern einer Abteilung oder Beschwerdekammer während einer Verhandlung ist bei einer "Fernteilnahme" kaum möglich oder jedenfalls stark erschwert.

Dasselbe gilt im Hinblick auf die Beratungen und Abstimmungen einer Abteilung oder Beschwerdekammer. Wenngleich der Effekt empirisch schwer erfassbar sein dürfte, ist anzunehmen, dass Diskussionen zwischen den Mitgliedern einer Abteilung oder Beschwerdekammer erschwert sind, wenn die Mitglieder voneinander räumlich getrennt sind und nur über einen „Kommunikationskanal“ zusammengeschaltet sind.

Im Dokument „Qualitätsorientierte Entscheidungsfindung“ (Veröffentlichung der Beschwerdekammern vom 29.06.2020; Punkt 36.1) wird die "kollegiale Zusammensetzung der Kammern" ausdrücklich als wichtiger Mechanismus zur Qualitätssicherung genannt.
Da die Fernteilnahme von Mitgliedern einer Kammer oder Abteilung aus den genannten Gründen für die kollegiale Zusammenarbeit ungünstig ist, sollte diese Form der mündlichen Verhandlung möglichst vermieden werden, wenn das Ziel der „Qualitätssicherung“ erreicht werden soll.

Schließlich ist zu bedenken, dass auch unter den besonderen Bedingungen der COVID19/ Corona-Pandemie keine Notwendigkeit für eine Fernteilnahme der Mitglieder der Prüfungs- oder Einspruchsabteilungen oder der Beschwerdekammern bestanden hat, denn bei einer derart geringen Personenzahl sollte die Einhaltung der Hygienebestimmungen ohne größeren Aufwand möglich sein. Jedenfalls nach dem Abflauen der Pandemie oder bei vorhandenen Impf- oder Testmöglichkeiten besteht kein rechtfertigender Grund mehr, mündliche Verhandlungen per "Fernteilnahme" durchzuführen.



Zusammenfassung

Bei mündlichen Verhandlungen, die als Videokonferenz durchgeführt werden, können die Mitglieder des jeweiligen Organs des EPA von unterschiedlichen Orten aus per Fernverbindung an der Videokonferenz teilnehmen (Fernteilnahme).
Die Fernteilnahme von Mitgliedern eines erstinstanzlichen Organs oder von Beschwerdekammern bei mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz erscheint jedoch sehr bedenklich, da sie geeignet ist, die Kommunikation und Zusammenarbeit unter den Mitgliedern zu behindern und dadurch die Qualität der in mündlichen Verhandlungen gefällten Entscheidungen zu beeinträchtigen. Selbst wenn „mündliche Verhandlungen in Form einer Videokonferenz“ als Normalfall etabliert werden sollten, bedarf die Frage der Rechtfertigung und Zulässigkeit der „Fernteilnahme“ einer gesonderten Prüfung. Mündliche Verhandlungen, bei denen die Mitglieder des jeweiligen Organs nur per Fernteilnahme mitwirken, sollten nicht zur „neuen Normalität“ gemacht werden.


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