Die Entscheidung G 1/19 der GBK des EPA oder „Quo vadis, Patentsystem 4.0?"Gekürzte und leicht redigierte Fassung des im VPP Rundbrief Nr. 2 / 2021, 99 ff. veröffentlichten Aufsatzes.

Dipl.-Inform. (Univ.) H. Heiske, LL.M.Der Autor ist bei SIEMENS als Syndikuspatentanwalt und Leiter des konzernweiten Fachreferats IP & Software tätig. Vor seinem Wechsel in die Patentanwaltschaft war er viele Jahre in der Entwicklung von Software und deren Standardisierung durch ITU-T und ETSI tätig gewesen. Er wurde letztes Jahr in Nachfolge von Fritz Teufel zum Vorsitzenden des Fachreferats Urheberrecht / Software des VPP berufen. Er ist Mitglied des Ausschusses für den Schutz von Computersoftware der Patentanwaltskammer und Associate Member des Committee for Information and Communication Technologies von epi. Die hier vertretenen Ansichten sind seine eigenen.
European Patent and Trademark Attorney, Patentanwalt in Augsburg


Die Digitalisierung schreitet immer schneller voran und ist auf dem Weg, zur dominanten technologischen Basis zukünftiger Innovationen zu werden. Rasant verschiebt sich die Wertschöpfung in vielen Bereichen der Wirtschaft aus der vormaligen Welt des haptisch Greifbaren in den Bereich des Virtuellen. Teure und nur mit viel Zeitaufwand herzustellende Prototypen werden durch digitale Simulationen neuer Produkte zur Erprobung von deren Praxistauglichkeit ersetzt. Digital Twins erschaffen digitale Abbilder der realen Welt und werden von neuen digitalen Technologien in einer bis dato nicht gekannten bzw. vorstellbaren Weise analysiert. Neuronale Netze lernen anhand digitaler Daten das Verhalten ganzer Industrieanlagen oder anderer komplexer Systeme und sind anschließend in der Lage, Prognosen über deren zukünftige Entwicklung zu treffen. Dies ermöglicht eine vorausschauende Wartung, die ein Optimum zwischen maximaler Lebenszeit von Verschleißteilen und Vermeidung von Ausfällen erzielt. Dabei wird die Verlässlichkeit der Vorhersagen immer wichtiger. Für all dies ist die Qualität der digitalen Simulationen der Realität von entscheidender Bedeutung.

In der Entscheidung G 1/19 befasste sich nun die Große Beschwerdekammer des EPA mit der Frage der Patentierbarkeit von computerimplementierten Simulationen. Aufgrund der vorstehend aufgezeigten Entwicklung kann diese Entscheidung erhebliche Auswirkungen auf den Schutz zukünftiger Technologien im Umfeld der Digitalisierung haben.

I. Hintergrund der G1/19

Bevor wir uns der G 1/19 zuwenden können, ist eine Befassung mit dem bisherigen Status Quo zum Schutz von digitalen Technologien unerlässlich. Viele Aspekte der G 1/19 erschließen sich erst unter Berücksichtigung der vorausgegangenen Entwicklung.

Patentwesen ist nichts für SOFTIES

Die Digitalisierung stellt das Patentsystem vor eine große Herausforderung. Nach traditionellem Verständnis bieten Patente Schutz für - salopp gesagt - alles, was „stinkt" (Chemie) oder „dampft" (Maschinenbau). Dieser von Haptik geprägten Wahrnehmung von Technik entsprechen digitale Technologien oft nicht. Digitalisierung bedeutet in ihrem Kern Ersetzung von Hardware durch Software. Viele Verfahren, die früher mechanisch abliefen, werden in der digitalen Welt durch Software ersetzt, die auf einem „General Purpose Computer" installiert ist. Das Verfahren ist vollständig in der Software verkörpert. Der Computer dient lediglich zur Ausführung der Software. Die sichtbare Hardware bleibt dabei stets gleich und die Technologien liegen nun in der unsichtbaren Software und den von ihr digital verarbeiteten Daten. So sind zum Beispiel Textverarbeitungsprogramme an die Stelle von Schreibmaschinen getreten, in Autos werden zurzeit die früheren mechanischen Tachometer und Displays durch Tablets mit darauf installierter Software ersetzt und die früheren Mobilfunktelephone sind auf einem Smartphone nur noch eine App unter vielen.

Das Patentsystem leidet seit langem darunter, dass man anfangs bei Aufkommen der Computertechnik nicht einschätzen konnte, wie Software patentrechtlich einzuordnen ist. Herausgekommen ist der bekannte Kompromiss, dass es für Software „als solche" keinen Patentschutz geben soll. Was man darunter genau verstehen soll, wurde offengelassen.

Dogmatisch lassen diese Worte eine Unterscheidung in nichttechnische und technische Software zu. Die Praxis hat aber einen anderen Ansatz entwickelt, der von der Erkenntnis getragen wird, dass es für das Vorliegen einer Erfindung unerheblich ist, ob sie mit klassischer Hardware oder mit Software, die auf einem Computer abläuft, realisiert wird. In der Tat sieht man einem Patentanspruch oft nicht an, wie die geschützte technische Lehre realisiert wird. Eine Umsetzung mit Software ist lediglich eine von vielen Möglichkeiten, aber nicht der Grund für die Patenterteilung. Dieser liegt im Vorliegen einer neuen und nicht naheliegenden technischen Lehre.

Für Erfindungen, die ganz oder teilweise mit Software, die von einem Computer ausgeführt wird, realisiert werden können, hat sich das aus dem Englischen stammende Akronym CII = Computer Implemented Invention etabliert. Dieses etwas umständlich wirkende Fachbegriff soll vor allem klarstellen, dass eine Patenterteilung nicht davon abhängt, ob eine technische oder nichttechnische Software geschützt werden soll, sondern davon, ob eine Erfindung vorliegt. In der öffentlichen Diskussion wird CII gleichwohl häufig als Synonym für den Schutz von Software verwendet und die gebotene saubere Trennung von Software und Erfindung unterlassen. Gegner von Patentschutz nutzen dies gern aus und werfen dem EPA die rechtswidrige Erteilung von sogenannten „Softwarepatenten" vor. Sie suggerieren dabei, dass Software mit Patenten geschützt wird, obwohl dies laut dem Gesetzestext verboten sei.

Es mag dieser Diskussion geschuldet sein, dass sich das EPA vor allem im Nachgang der hitzig umkämpften und letztendlich gescheiterten CII-Richtlinie der EU besonders bemüßigt gesehen haben mag, auch den kleinsten Verdacht einer rechtswidrigen Patentierung von Software akribisch zu vermeiden, und heutzutage stark dazu tendiert, Software generell als Nichttechnik anzusehen.

Die Entscheidung T 641/00 (Zwei Kennungen / COMVIK)

Als Folge dieser grundsätzlichen Einordnung von Software kann nach dem - namensgebend in der Entscheidung T 641/00 entwickelten - COMVIK Ansatz zur Prüfung von hybriden Mischgegenständen aus technischen und nichttechnischen Anteilen Schutz für CII nur ausnahmsweise dann zugestanden werden, wenn sich bei der Ausführung der (nichttechnischen) Software durch einen Computer (weitere) technische Wirkungen ergeben, die über die normalen, technischen Wechselwirkungen hinausgehen, die bei der Ausführung jeder Software durch einen Computer auftreten.

Ein großer Nachteil dieses Ansatzes liegt in der Umkehrung von Grundregel und Ausnahme. Normalerweise hat ein Anmelder ein Recht auf ein Patent (Grundregel), es sei denn (Ausnahme), das Patentamt kann zeigen, dass keine patentwürdige Erfindung vorliegt. Nach COMVIK gibt es für nichttechnische Anteile keinen Patentschutz (Grundregel), es sei denn (Ausnahme), dass deren Wechselwirkungen mit Technologien patentwürdige technische Wirkungen ergeben.

Dies hat für die Digitalisierung fast schon absurd anmutende Konsequenzen. Liegt eine Erfindung vor, ist meist egal, ob sie mit Hardware oder Software realisiert wird. Funktional sind beide Ausführungen der Erfindung identisch. Als Folge der Digitalisierung realisieren heute 1000 unterschiedliche Software-Programme, die sich alle dieselbe Hardware-Plattform teilen, was früher 1000 unterschiedliche Hardware-Produkte geleistet haben. Die immensen Vorteile von Software hinsichtlich Flexibilisierung, Ressourcenschonung usw. sind allseits bekannt und müssen hier nicht näher betrachtet werden. Wichtig ist, sich der beliebigen Austauschbarkeit von Software und Hardware sowie deren funktionaler Identität bewusst zu werden.

Für das EPA besteht aber zwischen Hardware und Software ein fundamentaler Unterschied. Hardware wird immer als Technik angesehen und Zurückweisungen von Hardware-Erfindungen bilden die vorstehend gezeigte Ausnahme. Software gilt jedoch als Nichttechnik und Software-Erfindungen können nur ausnahmsweise geschützt werden. Diese Unterscheidung geht soweit, dass der heutige Prüfungsansatz des EPA sogar ausdrücklich als „Any-Hardware-Approach" bezeichnet wirdG 1/19, Absatz 28.. Auch die in heutigen Patentansprüchen verbreitete Formulierung „computerimplementiertes Verfahren" zielt ganz bewusst auf die Hardware („Computer") ab, obwohl das Verfahren meist mit einer Software implementiert wird und der Computer nur als ausführendes Organ herhalten muss, das der unsichtbaren Software ihre Wirkungen in der realen Welt verleiht. In Fachkreisen spricht man bereits von einer Diskriminierung von Software im Vergleich zu Hardware.

Erklären lässt sich dies aus funktionaler Sicht nicht, denn Software und Hardware sind gleichwertige, austauschbare Surrogate. Allein die Anbindung an die Haptik, die Realität, die physisch greifbare Welt erklärt nachvollziehbar, aber deshalb nicht automatisch auch überzeugend, woraus dieser große Unterschied herrühren und sich speisen mag. Auch in den USA ist dies deutlich wahrnehmbar. Der einige Zeit fast exklusiv angewandte „machine or transformation" Test ist auch Ausdruck eines Technikverständnisses, das auf das haptisch Greifbare fokussiert ist. Die Exklusivität mag zwischenzeitlich gefallen sein. Gleichwohl ist dieser Test immer noch der Goldstandard, wenn es um die Überwindung von Einwendungen nach 35 U.S.C. § 101 („non-statutory subject matter") geht.

Technische Wirkungen von Software innerhalb von Computern

Im Laufe der Zeit hat die radikale Forderung nach einer haptischen Wirkverbindung mit der außerhalb des Computers liegenden realen Welt im Bereich der Digitalisierung eine kleine, aber für die G 1/19 wichtige Modifikation erfahren, die der hochkomplexe Aufbau von Computern im Speziellen und die Digitaltechnik im Allgemeinen unvermeidlich gemacht haben. Für computerimplementierte Erfindungen ist mittlerweile anerkannt, dass sich technische Wirkungen einer Software auch ausschließlich innerhalb eines Computers einstellen können und weder von einem externen Input abhängen noch einen externen Output liefern. Übliche Beispiele sind Erfindungen, die dazu führen, dass Programme schneller ablaufen oder weniger Speicher benötigen. Auch geschickte Verwendungen der inneren Architektur eines Computers oder auf optimale Ausführung durch eine bestimmte Computerarchitektur hin getrimmte Datenstrukturen sind denkbar. Bei diesen Erfindungen tritt die haptische Wirkung innerhalb des Computers ein und erschöpft sich dabei nicht einfach bloß in den normalen Wirkungen, die bei jeder Ausführung eines Programms durch einen Computer auftreten.

Die Entscheidung T 1227/05 (Schaltkreissimulation I / INFINEON)

Simulationen sind allerdings auch für dieses erweiterte Verständnis von Haptik und Realitätsbezug schwierig. Auf der Eingabeseite sind sie regelmäßig nicht über Sensoren mit der Realität verbunden, sondern verarbeiten „nur" digitale Daten, mit denen die Realität modelliert wird, und auf der Ausgabeseite stellen sich ihre Wirkungen in der Realität oft nur indirekt ein, indem ein Mensch oder eine nachgeschaltete Maschine im Vertrauen auf eine Prognose etwas in der realen Welt macht. Besondere technische Wirkungen innerhalb von Computern sind denkbar, aber nicht das Hauptanwendungsfeld von Simulationen. Sofern Menschen mit Prognosen beglückt werden, stellt sich zudem das in der Entscheidung T 1670/07 prominent beschriebene Problem der broken technical chain, wonach der zwischengeschaltete Mensch die Zurechnung der von ihm verursachten technischen Wirkungen zu der Erfindung verhindere.

Die Rechtspraxis hat versucht, diese Extremform der Nichtberücksichtigung von technischen Wirkungen zu mildern. So lässt sich die vermeintliche Unbestimmtheit des Verhaltens des zwischengeschalteten Menschen überwinden, wenn das Eintreten eines bestimmten Verhaltens hinreichend plausibel erscheint. Eine andere Möglichkeit besteht darin, müßigen Plausibilitätsbetrachtungen zum Verhalten des Menschen vollständig aus dem Weg zu gehen, indem man unmittelbar auf die Ausgabe einer Software abstellt und deren Potential zur Erzielung / Ermöglichung einer technischen Wirkung bewertet.

Ein vorläufiger Abschluss dieser Entwicklung findet sich in der Entscheidung T 1227/05, wonach es bereits ausreichen soll, einen hinreichend bestimmten technischen Zweck in den Anspruch aufzunehmen. Die Erfindung war in diesem Fall eine computerimplementierte Berechnung von 1/f Rauschen unter Anwendung von mathematischen Regeln und der technische Zweck „die numerische Simulation eines Schaltkreises, der 1/f Rauscheinflüssen unterworfen ist". Explizite Angaben, dass und von wem dieser Zweck tatsächlich bewirkt wird, waren nicht erforderlich.

Für Software nur zweckbeschränkter, gegenständlicher Schutz?

So sehr man diese Entwicklung aus praktischer Sicht begrüßen konnte, so sehr irritierte doch auch immer die mit ihr einhergehende Zweckbeschränkung des Patentschutzes, während solche Beschränkungen des Schutzbereichs für Hardware regelmäßig nicht erforderlich sind. Ein Hammer mit innovativer Öse benötigt keine Zweckangabe im Anspruch zur Anerkennung der Technizität. Es reicht, eine innovative technische Wirkung in der Beschreibung oder während der Sachprüfung aufzuzeigen, um Schutz für jeden beliebigen Zweck eines „Ösenhammers" zu erhalten, dabei insbesondere auch für solche Zwecke, die sich erst zukünftig einstellen und zum Zeitpunkt der Erfindung noch nicht abzusehen gewesen waren.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Beschwerdekammern dem mit der T 1227/05 aufgezeigten Ansatz nur sehr zögerlich gefolgt sind. Die überwiegende Anzahl von späteren Patentbegehren, bei denen sich die Anmelder auf die T 1227/05 gestützt haben, wurde wegen nicht hinreichend bestimmten technischen Zwecks zurückgewiesen.

Die Vorlageentscheidung T 489/14 (Pedestrian Simulation / CONNOR)

Genauso ist der Fall in der Vorlageentscheidung gelagert. Gegenstand der Anmeldung ist die Simulation der Bewegung einer Menschenmenge, die zu Fuß in einer vorgegebenen Umgebung unterwegs ist.

Mit den Hilfsanträgen wird als eine konkrete Anwendung eine Prognose beansprucht, bei der mit Hilfe der Simulation vorhergesagt werden soll, wie schnell Fußgänger aus einem Gebäude evakuiert werden können, und als eine weitere ein Re‑design des Gebäudes, wenn der prognostizierte Zeitraum zu hoch ausfällt. Wie eingangs ausgeführt, wird für solche Anwendungen die Verlässlichkeit von Vorhersagen immer wichtiger. Ein zentraler Fokus der Forschung liegt in diesem Gebiet darauf, die Übereinstimmung von Simulation und Realität zu optimieren.

Die Erfindung liegt in einer anderen Herangehensweise, die Bewegung der Menschenmenge zu simulieren. Es wird nicht das Strömungsverhalten der gesamten Menschenmenge simuliert, sondern das Strömungsverhalten jedes einzelnen Menschen unter Berücksichtigung seiner Umgebung. In gleicher Weise könnte man die Erfindung auch auf das Strömungsverhalten von Wasser oder elektrischem Strom anwenden, indem man anstelle des Strömungsverhaltens eines Flusses das einzelner Wassertropfen oder -partikel oder anstelle des Strömungsverhaltens eines elektrischen Stroms das einzelner Elektronen simuliert. So gesehen besteht zwischen der Schaltkreissimulation der T 1227/05 und der Fußgängersimulation der T 489/14 der Vorlageentscheidung aus funktioneller Sicht kein Unterschied. Dies hatte auch die Anmelderin ins Feld geführt und die vorlegende Kammer anerkannt. Sollte man der T 1227/05 folgen, müsste man konsequenterweise auch auf den Gegenstand der Vorlageentscheidung ein Patent erteilen. Dies wollte die Vorlagekammer aber erkennbar nicht. Ihr fehlt eine Verbindung der Simulation mit der realen Welt. Hierzu postuliert sie folgende These:

In the Board's view, a technical effect requires, at a minimumHervorhebungen in Zitierungen sind durchweg vom Autor hinzugefügt., a direct link with physical reality, such as a change in or a measurement of a physical entity.T 489/14, Absatz 11.

Für das Verständnis der G 1/19 ist hierbei von ganz entscheidender Bedeutung, dass mit der Formulierung at a minimum zum Ausdruck gebracht wird, dass in diesem Link ein allgemeingültiges, notwendiges Kriterium gesehen wird, das jede (!) Erfindung erfüllen muss. Hier wird deutlich erkennbar, dass es bei der G 1/19 nicht nur um Simulationen geht, sondern um Grundsätzliches.

Die dem einen oder anderen bestimmt noch aus dem Schulunterricht vertraute und schon damals nicht leicht zu verdauende Unterscheidung von notwendig und hinreichend spielt bei der G 1/19 eine zentrale Rolle und läuft uns nochmals prominent in der 2. Vorlagefrage über den Weg.

... is it a sufficient condition that the simulation is based, at least in part, on technical principles underlying the simulated system or process.T 489/14, Vorlagefrage 2.

II. Die Entscheidung G 1/19

Kernpunkte der Begründung der G 1/19 sind zum einen eine Auslegung der Vorlagefragen und dort vor allem die Frage, was genau eigentlich eine computer-implemented simulation claimed as such sein soll bzw. sein könnte, und zum anderen eine ausführliche Befassung mit unterschiedlichsten Aspekten, die das Technikverständnis dieser GBK widerspiegeln. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden nachfolgend zentrale Teile der Entscheidung etwas genauer betrachtet. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht so sehr auf einer mikroskopisch detaillierten Analyse (hierfür finden sich in der Literatur reichlich Alternativen), sondern mehr auf dem Versuch einer eher makroskopischen Folgenabschätzung für den patentrechtlichen Schutz von digitalen Innovationen.

Auslegung "computer-implemented simulation claimed as such" und die Vorlagefrage 1

Es hat in der Fachwelt während der Kommentierungsphase größere Diskussionen gegeben, wie der Begriff computer-implemented simulation claimed as such zu verstehen sein soll. Hätte man as such wie in Artikel 52 (3) EPÜ interpretiert, wäre die Vorlagefrage zur rhetorischen Frage verkommen, denn sie hätte impliziert, dass eine computer-implemented simulation eine Nichterfindung im Sinne von Artikel 52 (2) EPÜ ist. Dies wäre zudem ein In-Sich-Widerspruch gewesen, weil computer-implemented wegen des darin enthaltenen Computers nach dem Any-Hardware-Approach als Erfindung angesehen wird. Als Alternativen haben sich zwei sinnvolle Auslegungen angeboten. Entweder man meint mit as such nur die Simulation ohne die Computerimplementierung oder man meint ein Simulationsprogramm, dessen Input / Output nicht den von der Vorlageentscheidung as a minimum eingeforderten direkten Link zur realen Welt hat. Absolut nachvollziehbar hat die GBK sich für letztere entschiedenG 1/19, Absatz 52., die Fragestellung entsprechend angepasstG 1/19, Absatz 50 f. und dies sehr schön in folgendes Bild gefasstG 1/19, Absatz 85.



Dieses Bild lässt unmittelbar erkennen, warum Vorlagefrage 1 bei dieser Auslegung auf beinahe schon trivial anmutende Weise zwingend zu bejahen war. Wie eingangs beschrieben und in dem Bild nochmals sehr schön plastisch nachvollziehbar dargestellt, können Computerimplementierungen auch innerhalb von Computern technische Wirkungen entfalten, die über die normale physikalische Wechselwirkung von Programm und Computer hinausgehen. Damit ist klar, dass nicht in jedem Fall immer as a minimum ein direkter Link zur realen Welt außerhalb des Computers bestehen muss.

Die vermeintliche Trivialität der Antwort darf aber nicht zu der irrigen Annahme verleiten, die GBK hätte dem von der Vorlagefrage vehement gefordert direkten Link zur realen Welt eine generelle Absage erteilt. Es wurde lediglich verneint, dass dieser Link ein zwingend notwendiges Kriterium ist, das von jeder Erfindung erfüllt sein muss. Liegt der Link aber vor, stellt er regelmäßig sogar ein hinreichendes Kriterium für das Vorliegen einer Erfindung dar und bleibt somit weiterhin ein zentrales, wenn nicht sogar das zentrale Kriterium für das Technikverständnis des EPA.G 1/19, Absatz 88.

Zur Vorlagefrage 1 hat die GBK lediglich festgestellt, dass immer dann, wenn etwas (Technisches oder Nichttechnisches) computerimplementiert wird, allein schon wegen der Computerimplementierung die Möglichkeit von rein computerinternen technischen Wirkungen besteht.

Der offene Technikbegriff und seine Auswirkungen auf die Vorlagefrage 2a

Der in der Vorlageentscheidung geäußerte Ruf nach einem gesetzgeberischen Eingriff für neu aufkommende TechnologiefelderT 489/14, Absatz 16. wurde nicht aufgegriffen. Stattdessen wurde bestätigt, dass sich Technik einer abschließenden Definition entzieht und der Gesetzgeber deshalb den Ansatz gewählt hat, den Technikbegriff offen zu lassen, damit sich in der Rechtspraxis das Technikverständnis jederzeit an neue Entwicklungen und Änderungen der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Technik anpassen kann.G 1/19, Absatz 75 ff. Konsequenterweise hat die GBK die Vorlagefrage 2 insoweit als unzulässig verworfen, als um Angabe eines Kriterienkatalogs nachgefragt wurde, weil es auf Grund fehlender Kenntnis der Zukunft unmöglich ist, einen Katalog zu erstellen, der keine zukünftigen Technologien vom Patentschutz ausschließt.

Das aktuelle Technikverständnis des EPA

Die Ausführungen der GBK zu ihrem aktuellen Technikverständnis gehen gleichwohl an manchen Stellen für eine G‑Entscheidung erstaunlich weit ins Grundsätzliche und Prinzipielle. Ausgangspunkt ist dabei der Spannungsbogen zwischen dem in Artikel 52 (1) EPÜ verbrieften Patentschutz auf allen Gebieten der Technik und dem Ausschluss von Patentschutz für gedankliche Tätigkeiten, die nach Artikel 52 (2)+(3) EPÜ als solche nicht als Erfindung angesehen werden. Theoretisch wäre folglich all das Nichttechnik, was man im Prinzip auch gedanklich mit Unterstützung von Papier und Bleistift ausführen könnte. Schnellere Ausführung durch Maschinen ändere daran nichts. Diese akademische Theorie hält sich hartnäckig, findet sich sowohl in der gegen Ende der G 1/19 zitierten BGH-Entscheidung als Meinung der Vorinstanzen dokumentiertX ZB 11/98 (Logikverifikation), Absätze 2+17. als auch prominent in der VorlageentscheidungT 0489/14, Absatz 4.. Die in der realen Welt physisch existierende Hardware (Datenverarbeitungsanlage, Computer) ist technisch, die von der Hardware ausgeführten Verfahren sind es bei von der Hardware losgelöster Betrachtung (= as such) jedoch nicht, weil sie dann im Prinzip auch gedanklich ausgeführt werden können.

Die GBK scheint diese auch schon in der G 3/08 durchscheinendeG 1/19, Absatz 36. Grundeinteilung der Welt zu teilen, wonach das Technische vor allem in den physisch greifbaren Naturwissenschaften gesehenG 1/19, Absatz 28. und die intellektuelle Welt der Gedanken den nichttechnischen Geisteswissenschaften zugeordnet wird.G 1/19, Absatz 25.

Klarstellungen zum COMVIK-Ansatz

Der COMVIK-Ansatz wird nochmals sehr ausführlich dargestellt und vollumfänglich bestätigt.G 1/19, Absatz 30 ff.

Er wird klargestellt, dass die Überwindung der ersten Hürde des Two-Hurdle-Approachs nicht bedeutet, dass anschließend bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit vorbehaltslos alle Merkmale eines Anspruchs berücksichtigt werden. Stattdessen erfolgt hier nochmals dieselbe Prüfung wie bei der ersten Hürde. Ein Unterschied besteht nur darin, dass für das Vorliegen einer Erfindung nach Artikel 52 EPÜ ein einziges technisches Merkmal ausreicht, während bei der Prüfung nach Artikel 56 EPÜ alle Merkmale auf Technizität geprüft werden. Da in der Praxis nach dem Any-Hardware-Approach allein das Merkmal „computer-implementiert" wegen des darin enthaltenen Computers für die Überwindung der ersten Hürde ausreicht, mag dies zu der Fehlwahrnehmung geführt haben, dass die Technizitätshürde stark abgesenkt worden wäre. In Wirklichkeit wird lediglich die vollständige Prüfung aller Merkmale erst bei der Prüfung nach Artikel 56 EPÜ durchgeführt. Dabei gilt derselbe Prüfstandard für die Separierung von Technik und Nichttechnik wie bei der ersten Hürde und kommt hier erst in voller Tragweite zur Anwendung, weil nun auch die Merkmale analysiert werden, die die eigentliche digitale Innovation darstellen.G 1/19, Absatz 38.

Diese Einordnung mit den zwei rechtlichen Hürden ist dogmatisch nachvollziehbar, birgt aber die Gefahr, von einer Zweiteilung der Prüfung auszugehen. Der Autor bevorzugt es, in Schulungen die Prüfungspraxis des EPA stattdessen als Technical-Skeleton-Approach zu charakterisieren. Dies beruht auf der Beobachtung, dass in der Prüfungspraxis die Separierung von Technik und Nichttechnik genau einmal durchgeführt wird, und zwar gleich zu Beginn noch vor der Recherche. Dies ist schon allein deshalb notwendig, weil nur der Stand der Technik recherchiert wird, nicht aber der Stand der Nichttechnik. Je nach Ausgang der Separierung verzweigt nun das Verfahren in rechtlicher Sicht. Artikel 52 EPÜ kommt zur Anwendung, wenn sich kein technisches Skelett findet (Stichwort: „keine Erfindung") oder der Schutzbereich auch Ausführungen ohne technisches Skelett umfasstT 154/04, Absatz 21. (Stichwort: kein Schutz für „Nichterfindungen", siehe dazu ausführlicher das nächste Kapitel). Ansonsten ist das technische Skelett, inclusive aller dem Skelett nach dem COMVIK-Ansatz anhaftenden technischen Wechselwirkungen mit der Nichttechnik, as a whole Gegenstand von Recherche und Sachprüfung nach Artikel 54 EPÜ und vor allem Artikel 56 EPÜ.

Keine nichttechnischen Anwendungen von Nichttechnologien im Schutzbereich

Die G 1/19 überrascht mit einer weiteren Überlegung, die erhebliche Auswirkungen auf den für digitale Innovationen erzielbaren Schutz haben könnte.

Nichttechnik wird nach dem COMVIK-Ansatz bei der Prüfung nach Artikel 56 EPÜ nur ausnahmsweise über Wechselwirkungen mit Technik berücksichtigt. Für computerimplementierte digitale Innovationen ist hierfür regelmäßig entweder ein Link zur realen Welt außerhalb des Computers oder eine technische Wirkung innerhalb des Computers erforderlich. Um dies zu erreichen, muss man üblicherweise eine technische Anwendung der digitalen Innovation in die Ansprüche einfügen, wenn die eigentliche digitale Innovation als Nichttechnik qualifiziert worden ist. Als Nebeneffekt wird dabei unweigerlich der erzielbare Schutz auf die Anwendung der digitalen Innovation beschränkt.

Die G 1/19 unterscheidet nun weiterführend zwischen technischen und nichttechnischen Anwendungen und fordert, dass die Zweckbeschränkung des Schutzbereichs auf bestimmte Anwendungen der digitalen Innovation so erfolgen muss, dass keine nichttechnischen Anwendungen im Schutzbereich verbleiben. Dogmatisch wird dies damit begründet, dass die Schutzvoraussetzung im ganzen Schutzbereich vorliegen müssen.G 1/19, Absatz 82 ff.

Die Folgen dieser Überlegungen könnten sehr weitreichend sein. Stand man bisher schon vor dem Problem, Anwendungen in den Ansprüchen so allgemein zu fassen, dass auch möglichst alle zum Zeitpunkt der Anmeldung noch nicht absehbaren zukünftigen Anwendungen durch den Schutz erfasst werden, muss man nun eventuell zusätzlich sicherstellen, dass keine tatsächlichen oder auch nur theoretisch denkbaren oder nicht sicher ausschließbaren nichttechnischen Anwendungen in den Schutzbereich fallen.

Potenzielle technische Wirkungen

Ein Ausweg aus dieser Situation könnte darin liegen, lediglich auf das Potential zum Erzielen einer technischen Wirkung abzustellen. Viel diskutiert wurde in diesem Zusammenhang die T 1173/97 (Computerprogrammprodukt / IBM), gemäß der ein eigenständiger, gegenständlicher Schutz allein der Software zulässig ist, die ein patentgeschütztes Verfahren implementiert. Eine Beschränkung auf eine Kombination von Software plus Computer, der diese Software ausführt, ist nicht erforderlich. Es reicht das Potential der Software, bei Ausführung durch einen Computer das patentgeschützte Verfahren zu implementieren. Die Zweckangaben aus der T 1227/05 folgen demselben Gedankengang und sind dabei vielleicht sogar noch etwas flexibler und weitreichender. Beiden ist gemein, dass sich auf diese Weise die Aufnahme von Anwendungen in den Anspruch vermeiden ließe.

Leider schiebt die GBK einer breiteren Anwendung für digitale Innovationen einen deutlichen Riegel vor, indem sie konstatiert, dass dies im Fall der T 1173/97 nur deshalb möglich ist, weil implizit klar istG 1/19, Absatz 90 ff., dass die potentiellen technischen Wirkungen der Software ausschließlich durch ein Zusammenspiel der als Computerprogrammprodukt geschützten Software mit dem nicht beanspruchten Computer eintreten können.G 1/19, Absätze 87-92. Man kann aber aus diesem Sonderfall nicht ableiten, dass potentielle technische Wirkungen auch in anderen Konstellationen als „reale" technische Wirkungen verstanden werden können.G 1/19, Absatz 91. Die GBK begrenzt diese Überlegung somit auf solche Fälle, in denen zumindest implizit klar ist, dass ausschließlich „reale" technische Wirkungen eintreten. Was genau eine „reale" technische Wirkung sein soll, wird dabei offengelassen. Es drängt sich aber im Gesamtkontext der G 1/19 auf, dass dies in den allermeisten Fällen Wirkungen in der realen Welt sein dürften. Bei Computerimplementierungen treten diese außerhalb oder innerhalb von Computern auf. Ob es noch andere Fälle gibt, kann nicht ausgeschlossen werden. Beispiele hierfür nennt die GBK aber nicht und verweist stattdessen auf die üblichen Allgemeinplätze der technischen Lösung eines technischen Problems oder des technischen Beitrags zu einer technischen Lehre, die natürlich allesamt einen Zirkelschluss bilden, wenn es um die Frage der Technizität geht.

Umdeutung der T 1227/05

Ebenso wird auch dem mit der T 1227/05 eröffneten Ausweg über Zweckangaben dasselbe Korsett auferlegt. Während die GBK zunächst noch feststellt, dass es nicht ihre Aufgabe ist, eine rechtskräftig abgeschlossene Entscheidung nochmals zu entscheidenG 1/19, Absatz 128., tut sie es kurz darauf faktisch gleichwohl, indem sie sehr deutlich nahelegt, dass sich die T 1227/05 eigentlich auch nur unter der Prämisse einer impliziten technischen Funktion widerspruchsfrei in das Technikverständnis der GBK einfügt.G 1/19, Absatz 133. Mit beinahe wortidentischer Argumentation wie bei den potentiellen technischen Wirkungen wird auch hier festgehalten, dass man die adäquat definierten technischen Zweckbeschränkungen der T 1227/05 nicht generalisieren kann.G 1/19, Absatz 133.

In der kommentierenden Literatur wurde sehr schnell angemerkt, dass mit der G 1/19 der Weg wieder verschlossen worden ist, der mit der T 1227/05 für digitale Innovationen vorsichtig eröffnet worden war.Binnie Simon, Pelly Jason; "Patentability of simulations - Decision of the Enlarged Board of Appeal for G1/19"; https://www.boult.com/bulletins/patentability-of-simulations-decision-of-the-enlarged-board-of-appeal-for-g1-19; 12.03.2021.

Virtuelle / berechnete technische Wirkungen

Die Stellungnahme des Präsidenten des Amtes, und mit ihr viele weitere Stellungnahmen, zeigen eindrucksvoll, dass dem offenen Technikbegriff auch ein weiter gefasstes Technikverständnis zu Grunde gelegt werden kann, das nicht nur die starke Fixierung auf die gegenständliche Haptik der traditionellen Innovationen perpetuiert, sondern auch die Charakteristik der heutigen digitalen Innovationen, die von digitaler Verarbeitung digitaler Daten geprägt sind, aufgreift und in einen umfassenderen Technikbegriff integriert. Es drängt sich der Eindruck auf, dass im Amt, bedingt durch die kräftige Einstellung von Informatikern und möglicherweise unterstützt durch eine Stärkung des Dialogs mit den Anwendern, die allfällige Anpassung des Technikverständnisses an die digitale Welt bereits weiter fortgeschritten sein könnte.

Mit der Eingabe des Präsidenten des Amtes wird angeregt, virtuelle oder berechnete technische Wirkungen, die auf Basis von digitalen Abbildern der realen Welt (sog. „Digital Twins") ermittelt werden, mit den korrespondierenden technischen Wirkungen aus der realen Welt gleichzusetzen. Der Sperrriegel gegen eine grenzenlose Ausdehnung des Patentschutzes würde sich dabei auf den Gegenstand der Simulation verschieben. Wird ein technisches System mit einem digitalen Twin simuliert und gibt es eine technische Wirkung in dem technischen System, dann vererbt sich die Technizität dieser Wirkung als virtuelle oder berechnete technische Wirkung auf seinen digitalen Zwilling. Als neues Gebiet der Technik entsteht zugleich das Gebiet der Simulationstechniken, deren technische Lehren darin bestehen, reale Technik bestmöglich mit Hilfe von digitalen Zwillingen nachzubilden und zu simulieren.

Die GBK ist von diesem Ansatz sichtlich nicht begeistert. Es lässt sich nach dem haptisch geprägten Technikverständnis häufig nicht ausschließen, dass virtuelle oder berechnete technische Wirkungen, die „nur" als digitale Daten vorliegen, auch in nichttechnischen Anwendungen genutzt werden könnten. Auch könnte der Mensch derjenige sein, der technische Wirkungen in der realen Welt herbeiführt, was wieder die bekannten Bedenken hinsichtlich eines kognitiven Eingriffs und der daran anschließenden Unterbrechung der technischen Wirkungskette eröffnen und etwas weiter gefasst der Begrenzung des gesamten Schutzbereichs auf lediglich technische Anwendungen zuwiderlaufen könnte.G 1/19, Absatz 97 ff. Sie lehnt es deshalb ab, diesen Ansatz aufzugreifen.G 1/19, Absatz 128.

Einordnung von Simulationen gemäß dem Technikverständnis des EPA

Die GBK zeigt sich noch nicht bereit für derartige Weiterentwicklungen des offenen Technikbegriffs. Stattdessen führt sie aus, dass eine computerimplementierte Simulation im Kern aus einem (i) numerischen Modell mit (ii) Gleichungen und darauf aufsetzenden (iii) Algorithmen besteht.G 1/19, Absatz 104. Sowohl Modelle mit GleichungenG 1/19, Absatz 106. als auch AlgorithmenG 1/19, Absatz 112. sind nach dem Technikverständnis der GBK lediglich gedankliche Tätigkeiten und somit Nichttechnik.

Die GBK ist sich durchaus bewusst, dass die Erstellung von Digital Twins, mit denen die Realität möglichst passgenau simuliert werden kann, eine enorme Herausforderung darstellt und das Auffinden einer „besseren" Simulation eine Standardaufgabe der Digitalisierung darstelltG 1/19, Absatz 118.. Sie erinnert in ihrer Bedeutung an die klassische Standardaufgabe des Maschinenbaus, sparsamere Motoren zu finden. Gleichwohl verweigert sie der digitalen Problemstellung die Anerkennung als eigenständige technische AufgabeG 1/19, Absatz 111. und verschiebt sie, der Logik des COMVIK Ansatzes und ihres Technikverständnisses konsequent folgend, stattdessen als vorbekanntes einzuhaltendes nichttechnisches KriteriumG 1/19, Absatz 110. in die objektive technische Aufgabe des Problem-Solution-Approaches.

Technische Wirkungen von (computerimplementierten) Simulationen

Nach dieser äußerst weitreichenden und fundamentalen Einordnung von Simulationen verwundert es nicht, dass die GBK sehr deutlich davon ausgeht, dass - Ausnahmen in seltenen Sonderfällen vorsichtshalber nicht kategorisch ausgeschlossen - Simulationen regelmäßig keine technischen Wirkungen haben werden.G 1/19, Absatz 115.

Für computerimplementierte Simulationen ergeben sich als Folge eigentlich nur die technischen Wirkungen, die allen Computerimplementierungen unabhängig von den durch sie realisierten Gegenständen zu eigen sind, also vor allem die beiden Klassiker Ressourcenschonung („braucht weniger Speicher") und Performancesteigerung („läuft schneller"), die zunehmend wie digitale Zwillinge der beiden traditionellen Klassiker Maschinenbau („dampft") und Chemie („stinkt") wirken.G 1/19, Absatz 115.

Es wird nicht ausgeschlossen, dass die (nichttechnischen) Simulationen sogar im Zusammenspiel mit den (technischen) Computerimplementierungen technische Wirkungen entfalten könnten. Diese dürften aber sowohl für die SimulationsmodelleG 1/19, Absatz 110. als auch die SimulationsalgorithmenG 1/19, Absatz 112 ff. in den allermeisten Fällen auf die typischen Wirkungen innerhalb des Computers beschränkt sein.

Als man fast schon verleitet ist, die Suche nach möglichen Ansatzpunkten einzustellen, wie man auch die Qualität der Simulation geschützt bekommen könnte, überrascht die GBK mit der Überlegung, dass die Genauigkeit der Simulation - wenn schon selbst keine technische Wirkung - vielleicht wenigstens ein Faktor sein könnte, der einen Einfluss auf eine technische Wirkung haben könnte. Diese Überlegung findet sich etwas versteckt in der negativen Schlussfolgerung, dass eine behauptete Verbesserung einer computerimplementierten Simulation auch daran scheitern könnte, dass die Simulation nicht genau genug ist und deshalb die angestrebte technische Wirkung nicht eintritt.G 1/19, Absatz 111. Die Ursache für das Scheitern liegt also nicht in der (technischen) Computerimplementierung, sondern in der schlechten Qualität der (nichttechnischen) Simulation. Der Umkehrschluss scheint möglich, dass eine gute Qualität der Simulation zumindest dann einen für die Prüfung nach Artikel 56 EPÜ relevanten Einfluss haben könnte, wenn sich eine behauptete technische Verbesserung auf Grund einer verbesserten Qualität einer Simulation einstellt. Immerhin wäre es eine positive Aussicht und die lassen wir jetzt einfach mal so stehen.

III. Resümee für Simulationen

Die Begründung der G 1/19 ist zunächst vor allem für die Frage der Patentierung von Simulationen eine Enttäuschung. Besonders schlecht sieht es für die auf Digitalen Twins basierenden Simulationen und Vorhersagesysteme aus, deren Prognosen Menschen zur Steuerung ihres Verhaltens zur Verfügung gestellt werden. Dies gilt leider auch dann, wenn das Vertrauen der Menschen in die Prognose von ihrer Qualität abhängt und Menschen umso bereitwilliger wertvolle Ressourcen durch Unterlassung von Tätigkeiten mit negativer Prognose einsparen, je besser die Prognose mit der Realität übereinstimmt.G 1/19, Absatz 123. Hier droht ein ganzer Industriezweig vom Schutz ausgenommen zu werden. Schutz dürfte auf diesem Gebiet der Digitalisierung nach dem Technikverständnis der GBK regelmäßig nur dann möglich sein, wenn technische Systeme automatisch auf Prognosen reagieren.

Das Technikverständnis der im Zug der Industrie 4.0 mit der Digitalisierung befassten Industrie unterscheidet sich teils erheblich von dem stark von der klassischen Haptik geprägten Technikverständnis, das in der G 1/19 durchscheint. Für die Industrie wird die Verlässlichkeit von Vorhersagen auf Basis von Simulationen immer wichtiger. Ein starker Fokus der Forschung liegt in diesem Gebiet darauf, die Übereinstimmung von Simulation und Realität zu optimieren. Fortschritte auf diesem Gebiet ordnet die G 1/19 aber grundsätzlich als Nichttechnik ein. Für computerimplementierte Simulationen kann sich Patentschutz deshalb nur aus der Computerimplementierung ergeben, nicht aber aus der Art und Weise der Simulation. Nicht ausgeschlossen wird, dass sich aus dem Wechselspiel von Simulation und Computerimplementierung im Einzelfall (weitere) technische Wirkungen ergeben mögen, die über die normale Wechselwirkung von Programm und Computer hinausgehen. Die G 1/19 lässt aber durchblicken, dass dies auf seltene Ausnahmefälle beschränkt sein dürfte.

Der mit der T 1227/05 eröffnete Weg, über hinreichend bestimmte technische Zweckangaben zu einem zukunftsfesten Schutz von Simulationen zu gelangen, wird in Richtung von zumindest implizit beanspruchten technischen Wirkungen uminterpretiert, die zudem über den gesamten Schutzbereich eintreten müssen, was in der Praxis oft nur schwer darzulegen sein könnte.

IV. Quo vadis, Patentsystem 4.0?

Die viel weitreichendere Bedeutung der G 1/19, die man wegen ihrer vermeintlichen Beschränkung auf Simulationen vielleicht gar nicht erwarten würde, könnte allerdings darin liegen, dass viele ihrer reichlichen Ausführungen zum COMVIK-Ansatz für alle Innovationen gelten könnten, die digital mit Software realisiert werden.G 1/19, Absatz 62. Dies könnte sehr weit reichen und neben Simulationen viele Innovationen betreffen, die vorwiegend digital mit Software realisiert werden wie zum Beispiel Neuronale NetzeRichtlinien für die Prüfung, G-II, 3.3.1., besagte VorhersagenG 1/19, Absatz 117. oder - noch weitergehender - jegliche Art von computer-implementierten VerfahrenG 1/19, Absatz 112. und sogar alle Aspekte eines Anmeldegegenstands, die das EPA Stand heute als Nichttechnik qualifiziert.

Die Überlegungen der GBK mögen dogmatisch wohl begründet sein und das Technikverständnis der GBK, das den Ausgangspunkt der Dogmatik bildet, konsequent umsetzen. Es irritiert jedoch zutiefst, dass mit Vorliegen einer technischen Anwendung einer digitalen Innovation der Patentschutz meist nicht von der beanspruchten technischen Anwendung, sondern von Neuheit und Nichtnaheliegen der digitalen Innovation getragen wird, die für sich genommen als Nichttechnik qualifiziert worden ist. Die Anwendung dient erkennbar nur dazu, eine technische Wirkverbindung der digitalen Innovation mit der realen Welt außerhalb oder innerhalb des Computers herzustellen.

Es verstärkt sich der ungute Eindruck, dass bei digitalen Innovationen der Fokus der Prüfung immer weiter von der eigentlichen digitalen Innovation weg wandert und sich zunehmend auf eher formale Nebenkriegsschauplätze verlagert. Manche unken schon, dass sich die Qualität der patentanwaltlichen Arbeit bald mehr daran bemessen könnte, wie man einzelne technische Anwendungen in die Ansprüche aufnimmtSo auch thematisiert in G 1/19, Absatz 42., ohne dabei alternative zukünftige technischen Anwendungen der eigentlichen Innovation auszuschließen, und weniger daran, wie gut die digitale Innovation erfasst wird, die eigentlich die Erfindung trägt. Wohin dabei die Überlegung führen wird, dass der beanspruchte Schutz so gefasst sein muss, dass keine nichttechnischen Anwendungen in den Schutzbereich fallen, wird die Zukunft zeigen müssen. Da eine allgemein gehaltene Beschränkung des Schutzbereichs auf technische Wirkungen abgelehnt wird, könnte es für einen erfolgreichen Patentschutz, der über die gesamte Laufzeit des Patents seine Wirkung bewahrt, entscheidend werden, zukünftige Anwendungen möglichst umfassend und treffgenau vorherzusagen und zu beanspruchen. Wohl dem, der hierfür ein Programm sein Eigen nennen darf, das auf Basis einer Simulation der zukünftigen technischen Entwicklung gute Vorhersagen und Prognosen über bis dato unbekannte zukünftige Anwendungen erstellt. Auch der Blick in eine gut funktionierende Glaskugel könnte an Bedeutung gewinnen. All dies führt zu deutlich spürbaren Zusatzkosten in der Verfahrensführung und verursacht starke Unsicherheiten beim erreichbaren Schutz.

Welche Bedeutung dem Patentsystem im Zeitalter der Digitalisierung zukommen wird, lässt sich aus heutiger Sicht nicht abschließend beurteilen. Das der G 1/19 zu Grunde liegende Technikverständnis bereitet große Schwierigkeiten, für Innovationen im Bereich der Digitalisierung adäquaten Schutz zu erlangen, der dem von Hardware entspricht. Schon heute ist in Fachkreisen anerkannt, dass für patentrechtlichen Schutz von digitalen Innovationen erheblich mehr Aufwand betrieben werden muss. Stark erhöht ist auch das Risiko, trotz großen Aufwands am Ende mit leeren Händen dazustehen. Der amtsseitig stark erhöhte Leistungsdruck steigert (möglicherweise ungewollt) den Anreiz für Patentprüfer, zeitaufwändigen Prüfungen von sperrigen digitalen Innovationen durch formale Qualifikation zentraler Merkmale als Nichttechnik aus dem Weg zu gehen, was den negativen Trend verstärkt. Anmelderseitig sind Vorboten erkennbar, die Investitionen in patentrechtlichen Schutz von digitalen Innovationen zurückzufahren. Es ist ohnehin schon fraglich, wie gut man patentrechtlichen Schutz von digitalen Innovationen überhaupt durchsetzen kann. Mit Software Forensics durch Re-Engineering und De-Compilierung hat man noch wenig Erfahrung, ahnt aber schon, dass sie technisch und wegen der territorialen Flüchtigkeit von Software im Zugriff auf die erforderlichen Beweismittel auch rechtlich zeitaufwändig und teuer werden könnte. Wenn dann auch noch die Schutzerlangung deutlich teurer und der erreichbare Schutz kleiner werden, droht ein reichlich toxisches Gemisch zu entstehen. Es ist gut möglich, dass sich im Zusammenspiel der einzelnen Faktoren der aufkeimende negative Trend noch weiter verstärken könnte. Sollte sich dieser verfestigen, könnte eine Trendwende schwer bis unmöglich werden. In der digitalen Welt läuft alles sehr viel schneller ab. Das aus der Vergangenheit tradierte Abwarten und vorsichtige Herantasten an neue Entwicklungen könnte sich hier als Bumerang erweisen.

Vielleicht mag eine der wichtigsten Feststellungen der G 1/19 darin liegen, dass der Technikbegriff zwingend offenbleiben muss und sich kontinuierlich der technischen Entwicklung anzupassen hat. Es ist eine fast schon zwangsläufige Konsequenz, dass deshalb auch die Ausführungen der G 1/19 zum aktuellen Technikverständnis des EPA nur eine Momentaufnahme darstellen können, mehr aber auch nicht, denn andernfalls würde die G 1/19 am Ende doch noch einen Kriterienkatalog für die Bewertung von Technik bilden, was im Widerspruch zu ihren eigenen Ausführungen zur Vorlagefrage 2a stünde, dass dies grundsätzlich unzulässig, weil unmöglich ist. Hier mag helfen, dass formal gesehen nur der Beschluss der G 1/19 in Rechtskraft erstarkt, nicht aber deren Begründung. Sie wird zwar prägend sein für die nahe Zukunft und nicht nur den Simulationen das Leben schwer machen. Die Tür für die weitere Anpassung des offenen Technikbegriff steht aber immer offen und es liegt an uns, die Zukunft zu gestalten.So auch G 1/19, Absatz 65. Die Eingabe des Präsidenten des EPA stimmt hoffnungsvoll. Sie könnte ein Indiz dafür sein, dass am EPA gerade ein Wandlungsprozess hin zu einem Technologieverständnis am Laufen ist, das zukünftig deutlich digitaler geprägt sein könnte.



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